Einleitung: Lohnt sich diese Rezension?
Normalerweise rezensiere ich Bücher, die außer mir nur wenige Menschen, allenfalls ein kleines Fachpublikum lesen. In solchen Fällen besteht höchstens das Problem, dass man dem Leser der Rezension trotz aller Kritik nahelegen will, das Buch zu lesen. Wozu sonst schriebe man die Rezension?
Bei Capital in the 21st Century (deutscher Titel: Das Kapital im 21. Jahrhundert) ist das anders. Das Buch ist ein voluminöser Bestseller, ein Gassenhauer, dessen Rezensionen zusammengenommen für mehrere Bücher reichten. Als Rezensent muss ich daher nicht nur das Buch sondern auch die Kritik daran kritisieren. Noch dazu wo eigentlich schon alles gesagt ist. Meine einzige Hoffnung besteht darin, dass erstens nicht all diejenigen das Buch gelesen haben, die behaupten, es gelesen zu haben, und dass zweitens unter Politologen einiges Interesse besteht, das Buch jedoch auch gewisses Abschreckungspotential besitzt.
In der Tat, die Mächtigkeit (fast 600 Seiten) und streckenweise Langatmigkeit des Werkes erweckt Zweifel, ob das Buch in Wirklichkeit nicht das ökonomische Pendant zu Günther Grass der Butt oder der Bibel ist: beide müssen in jedem gutbürgerlichen Haushalt stehen, aber gelesen haben sie die wenigsten. Das Wall Street Journal (Ellenberg 2014) berichtet denn auch, dass die meisten Leser bereits nach ca. 26 Seiten aufgeben. Nun denn, ich habe durchgehalten, ob immer mit der gebotenen Konzentration sei dahin gestellt. Als Strandlektüre eignet sich das Buch sicherlich nicht (Milanovic 2013).
Trotzdem können und sollten auch Nichtökonomen das Buch lesen. Es ist ein gewaltiges und beeindruckendes Werk. Es strotz vor interessanten originären Statistiken, die grosse Streifzüge über Hunderte von Jahren und über ganze Kontinente erlauben. Eingesprenkelt in die Litaneien der empirischen und theoretischen Wirtschaftsforschung findet der Leser immer wieder anekdotische Evidenzen aus Geschichte und Literatur, von A wie (Jane) Austen bis Z wie (Emile) Zola. Pikettys Buch ist auch so klar geschrieben, dass es sich teilweise sogar als Grundstudiumspflichtlektüre eignet. Auch dem Fachpublikum ist das Buch zu empfehlen, gerade weil es auf Ökonometrie oder sonstige Techniken verzichtet, die häufig eher der Blendung als der Erhellung dienen. Schliesslich scheut Piketty keineswegs die Provokation. Als Politökonom bin ich ja immer wieder dankbar für die präzis gesetzten Treffer, die Piketty gegen seine eigene Zunft landet. Das mag teilweise erklären, warum eine Riposte nicht lang auf sich warten lies.
Doch der Reihe nach: Ich beginne die Rezension mit einer (allzu?) kurzen Zusammenfassung. Dann wende ich mich der Rezeption des Buches zu, naturgemäß vor allem den kritischen Stimmen. Im letzten Teil folgen die Kritik der Kritik und ein paar Thesen dazu, was Politologen von dem Werk lernen können. Ich denke, dass sowohl das Buch als gerade auch die Kritik daran tiefgehende Probleme in der positiven und normativen Theorie der Ökonomie aufzeigen. Probleme, die für andere Sozialwissenschaftler offensichtlicher und dennoch sehr lehrreich sind.
Worum geht es also?
Das Buch untergliedert sich in vier große Abschnitte: Die einleitenden Kapitel enthalten eine Kurzversion der Haupthesen (für eilige Leser) sowie einige grundsätzliche Definitionen, welche Nichtökonomen den Zugang erleichtern. Der zweite Abschnitt diskutiert die funktionale Aufteilung des Volkseinkommen zwischen Kapital(besitzern) und Arbeitnehmern. Es behandelt v.a. die Entwicklung des Verhältnisses von Kapitalvermögen und Volkseinkommen, nach Piketty ein Schlüsselindiz für die zugrundeliegenden Triebkräfte öknomischer Ungleichheit. Der dritte Abschnitt diskutiert die Entwicklung der Ungleichheit zwischen Personen. Piketty konzentriert sich dabei vor allem auf drei Länder (Frankreich, England und die USA), macht jedoch immer wieder Referenzen zu anderen Industrieländern, die sich in seiner Datenbasis befinden. Der vierte Abschnitt diskutiert erstens aktuelle Entwicklungen – insbesondere die globale Finanzkrise. Zweitens spricht sich Piketty für die Einführung einer globalen (oder regionalen) Steuer auf Kapital (und Vermögen) aus.
Die größte Leistung Pikettys und seiner Kollegen ist die systematische Bestandsaufnahme der Entwicklung ökonomischer Ungleichheit über mehr als zwei Hundert Jahre in mehr als einem Dutzend OECD Ländern. Über Jahre haben sie Daten aus Archiven der öffentlicher Steuerstatistiken gesammelt. Diese Daten sind in der World Top Incomes Database (topincomes.parisschoolofeconomics.eu/) hervorragend dokumentiert und frei zugänglich. Die Datenbasis wird laufend erweitert und enthält bereits einige Länder außerhalb der OECD.
Obwohl die Daten vielfältig sind, hat es besonders die Grafik der langfristigen Entwicklung der Einkommensungleichheit in den letzten Hundert Jahren in die öffentlichen Debatte geschafft. In vielen der untersuchten Länder folgt die Kurve einem U. Innerhalb der letzten 100 Jahre sank die Ungleichheit nach den beiden Weltkriegen bis Ende der 70er Jahre. In den letzten Jahrzehnten hat sie jedoch wiederum deutlich zugenommen und tastet sich v.a. in angelsächsischen Ländern wieder bis an das Niveau von 1914 heran.
Piketty selbst gibt zu, dass die Daten weit davon entfernt sind, perfekt zu sein. Dennoch macht er glaubhaft, dass sie das wahre Ausmass der Ungleichheit eher noch unterschätzen, weil offizielle Steuerstatistiken keine Schlüsse über nicht berichtetes Einkommen zulassen. Ein derzeit diskutierter Schätzwert ist (Zucman 2013), dass fast 10 Prozent des Bruttosozialproduktes reicher Industriestaaten in Steueroasien liegen.
Was sind die Triebkräfte dieser Entwicklung und wie sind sie zu bewerten? Piketty fasst sein Argument in seiner berühmt-berüchtigten Formel zusammen, die es bereits in US amerikanische Talkshows geschafft hat: r > g. r steht dabei für die Kapitalrendite, beispielsweise Zinsen auf Geldanlagen. g ist die Wachstumsrate der gesamten Volkswirtschaft. Nach Piketty steigt Ungleichheit, wenn r > g, und dieser Fall ist für Piketty die Regel. Wenn Kapitalanlagen mehr Rendite erzeugen als das Wirtschaftswachstum den Produktionsfaktoren u.v.a. den Arbeitnehmern zulassen kann, wächst zunächst die Ungleichheit des Volkseinkommens und langfristig auch die Konzentration des Volksvermögens. Deswegen steigt dann auch das Verhältnis von Kapitalvermögen und Volkseinkommens. Daher wird ein immer größerer Anteil des Volksvermögens vererbt. Es kommt also zu einem Rückkoppelungsprozess: steigende Ungleichheit erzeugt immer größere Ausmaße an Ungleichheit.
Piketty deutet diesen Rückkopplungsprozess in Anlehnung an Marx als Grundwiderspruch eines voll funktionstüchtigen Kapitalismus. Man könnte auch neutraler formulieren eine Grundspannung: außer in Zeiten großen Wirtschaftswachstums, dominiert Kapitalbesitz andere Formen der Einkommenserzielung. Die Gesellschaft wird zu einer Rentiergesellschaft, in der die Masse nur unzureichende Chancen auf sozialen Aufstieg besitzt und eine kleine Elite von den Renditen ihres Vermögens lebt. Das ist die Pikettysche Dystopia. Geldadel vermehrt Vermögen, ein Kapitalismus ohne meritokratisches Rückgrat.
Durch die empirischen Untersuchungen weiß Piketty natürlich, dass es keinen linearen Prozess zu immer steigender Einkommens- und Vermögenskonzentration kommt. Was erklärt also die Ausnahmen von der Regel? Für ihn sind v.a. die beiden Weltkriege (und die damit einhergehende Vernichtung des physischen und monetären Wertes von Kapital) schuld. Hinzu kommt jedoch die Ausweitung progressiver Steuern auf Einkommen und Vermögen (einschließlich der Erbschaften). Erst als seit den 70er Jahren die führenden Industrienationen damit begannen, progressive Steuern abzubauen, nahm die Ungleichheit wieder sprunghaft zu. Die Folge ist eine Renaissance der Rentiergesellschaft, welche das Gesellschaftsbild des 21. Jahrhunderts pragen könnte.
So ist denn auch eine Steuer die zentrale Politikempfehlung Pikettys, die Global Capital Tax. Die Steuer sollte möglichst global erhoben werden und progressiv gestaffelt sein. Piketty ist sich durchaus bewusst, dass diese Forderung utopisch klingt. Jedoch hält er sie für einen begrenzten Raum wie die OECD oder die EU durchaus für machbar.
Wie wurde das Buch aufgenommen?
In der Rezeption des Buches bildeten sich rasch verschiedene Lager: Entusiasten (z.B. Paul Krugman und führende Vertreter des linken Feuilleton), gemischt Gestimmte (z.B. Bill Gates aber auch linke Ökonomen wie James K. Galbraith oder David Harvey), und solche, die das Werk bzw. dessen Thesen überwiegend ablehnen (viele ‚orthodoxen‘ Ökonomen wie Daron Acemoglu, Gregory Mankiw, und Deidre McCloskey). Ich will mich auf vier größere Kritikpunkte beschränken: Messfehler, die Definition von Kapital, das Gesetz (r > g), und die zugrundeliegende Ethik.
Im Fahrwasser des Reinhart-Rogoff Skandals, versuchte die Financial Times (Giles 2014) Piketty grobe Messfehler und arbiträre Annahmen in der Konstruktion seiner langen historischen Reihen vorzuwerfen. In der Tat ist Pikettys Ansatz nicht in jeglicher Hinsicht ideal (siehe Milanovic 2013). Jedoch ist die Transparenz in der Datenerzeugung beispielhaft und die substantiellen Ergebnisse wohl nicht zu leugnen. Diese Kritik ist denn auch relativ schnell wieder verflogen (im Gegensatz zu Reinhart und Rogoff).
Komplizierter liegt der Fall beim Kapitalbegriff. Die Hauptkritik dabei ist, dass Piketty Humankapital aus seinen Berechnungen ausschliesst. Er muss dies tun, weil eine historische Erfassung von Humankapital kaum möglich wäre. Noch nicht mal in der Gegenwart herrscht unter Ökonomen Einigkeit, wie Humankapital operationalisiert werden kann. Dennoch ist die Kritik in dem Sinne valide, wie sie sich das Bild verändern könnte, wenn man – durchaus plausibel – annimmt, dass die Bedeutung von Bildung im Zeitverlauf zunimmt. In gewisser Hinsicht ist die Kritik aber auch kleinlich, weil Piketty sehr wohl immer wieder auf Humankapital bezug nimmt, wenn auch weniger systematisch.
Für die meisten Ökonomen ist r > g und die zugrunde liegende Annahme der automatischen Vermögenskonzentration die wirkliche Achillesferse. Die kontrafaktische Überlegung dabei ist, warum die Nachkommen der Rockefellers (oder warum nicht: Fuggers) nicht auch noch heute die Reichsten in der Gesellschaft sind. Viele Ökonomen führen dementsprechend ihr klassisches Instrumentarium ins Feld, um Pikettys Hauptthese zu entkräften: sinkende Skalenerträge für Kapitalbesitz, zu geringe Elastizität zwischen Arbeit und Kapital, ungeklärte Definitionen von Abschreibungen, unberücksichtigte Risikokomponente der Rendite, Dynastien mit begrenzter Lebensdauer, vernachlässigte Dynamiken im Bereich der Innovation und Imitation… Die Liste der Unterlassungen ist also lange. Das mag Ökonomen interessieren, und ist auch für Politikökonomen nicht irrelevant. Selbst wenn aber die Bedeutung vererbter Vermögenskonzentration weniger wichtig sein sollte, als Piketty behauptet, so wird sie kaum als trivial zu bezeichnen sein. Und generell besteht die Ungleichheitsproblematik an sich jedoch weiter, egal woher sie kommt. Es ist daher wohl die größte Leistung Pikettys die Diskussion um das Ungleichheitsthema neu entfacht zu haben.
Die grundlegendste und meines Erachtens in der Psychologie vieler Ökonomen festsitzendste Kritik ist eine ethische. Sie lässt sich nach Deidre McCloskey (2014: 105) mit „So What?“ zusammenfassen: warum ist Ungleichheit wichtig? Für die meisten Ökonomen ist Gleichheit kein Wert an sich, sondern allenfalls relevant im Hinblick auf etwas anderes, z.B. drohende Effizienzverluste. McCloskey bringt diese Kritik auf den Punkt: „[Piketty‘s] social theme is a narrow ethic of envy.“ Wenn aber die ethische Grundlage für Pikettys Ratschläge falsch ist, dann ist eine Global Capital Tax gleichbedeutend mit global capital punishment (Tyler Cowen 2014).
Was lehrt uns die Diskussion um Piketty über Ökonomie?
Die politische Empfehlung der global capital tax wirkt in der Tat etwas einseitig. Für Politikwissenschaftler ist es relativ klar, dass eine Vielzahl wohlfahrtsstaatlicher Arrangements dazu beitragen, Ungleichheit zu reduzieren. Im internationalen Vergleich scheint es auch eher die Höhe sozialstaatlicher Ausgaben zu sein, die Ungleichheit reduziert, als unmittelbar die Progression der Steür (z.B. Mahler und Jesuit 2006). Die politische Diskussion der Entwicklung von Ungleichheit kommt daher auch insgesamt ein wenig zu kurz, denn es gibt nach wie vor große Unterschiede zwischen den Ländern.
Was die Kritik an Pikettys ökonomische Theorie anbetrifft ist Piketty sicherlich selbst schuld. Er bauscht sein Grundgesetz des r>g auf und provoziert damit (was er ja auch will). Innerhalb des Buches ist jedoch sein Ansatz vielseitiger als es scheint. Beispielsweise diskutiert er durchaus die Ungleichheit unter Angestellten und v.a. die galoppierenden Entlohnung von Spitzenmanagern. Was die kritische Auseinandersetzung zwischen Piketty und anderen jedoch zeigt, ist wie wenig trennscharf einer der Grundbegriffe der modernen Ökonomie ist: das Kapital. Die moderne Wirtschaftslehre hat diese Kindheitskrankheit keineswegs auskuriert, sondern allenfalls übertüncht, und diese Probleme – beispielsweise die Cambridge (USA) vs. Cambridge (England) Kontroverse – scheinen in aktuellen Diskussionen immer wieder durch. Ökonomie kumuliert keineswegs immer so gesichertes Wissen, wie es die führenden Vertreter gerne wollten.
Viel eklatanter scheint mir jedoch zu sein, dass Ökonomen eine Art einstudierter (sic!) Ungleichheitsaversion-Aversion haben. Verteilung ist entweder kein Problem, oder eben ein nachrangiges. Dieser Tendenz kann sich auch Piketty selbst nicht wirklich entziehen. Erstens, und nicht untypisch für Ökonomen, widmet er der normativen Theorie – warum sollten wir Ungleichheit fürchten? – sehr wenig Raum ein. Zum anderen misst auch er Ungleichheit bzw. Gleichheit eher einen instrumentellen Wert zu. D.h. Ungleichheit wird zum Problem, weil sie dazu führt, dass Rentiers mehr Geld verdienen als Unternehmer und Innovateure. Dies erzeugt ein von Ökonomen so gefürchtetes Anreizproblem. Abgesehen davon, dass dieses Argument sehr wackelig ist (wenn jemand kein Kapital hat, ist seine einzige Chance sozial aufzusteigen, zu arbeiten und innovativ zu werden), führt es zu einem klassischen Problem: sobald jemand zeigen kann, dass die Konsequenz der Ungleichheit für Effizienz nicht so schlimm ist, entfällt die Sorge um Ungleichheit und das Buch wird, so McCloskey wertlos: „It is a brave book. But it is mistaken. (2014: 112)“
Diese Kritik ist jedoch in zweierlei Hinsicht überzogen. Erstens bemessen Ökonomen den instrumentellen Wert von Gleichheit zumeist in Effizienzverlust. D.h. wenn Ungleichheit Wirtschaftswachstum gefährdet, dann ist die Sorge berechtigt, andernfalls nicht. In jüngster Zeit scheint das Pendel in die Richtung Pikettys zu schwenken (z.B. Cingano 2014), jedoch kann sich der Wind hier schnell drehen. Dann wäre Ungleichheit auch kein Problem mehr.
Allerdings hat Ungleichheit auch erhebliche Konsequenzen, die allenfalls indirekt ökonomisch wirksam werden. So ist beispielsweise eine der wenigen robusten einfachen Makrokorrelationen im internationalen Vergleich diejenige zwischen der Gewaltätigkeit einer Gesellschaft und deren Ausmaß an ökonomischer Ungleichheit. Auch ein demokratischer Prozess in ökonomisch extrem ungleichen Gesellschaften ist schwer vorstellbar. Das wird ironischerweise dann deutlich, wenn Freizeithistoriker und Spitzeneinkommensverdiener Gregory Mankiw einem ziemlich ungläubigen Fachpublikum erklären will, dass die Ungleichheit zu Zeiten der Sklavenhaltung in den USA keine negativen Auswirkungen auf Demokratie gehabt hätte (Matthews 2015).
Wenn man also eine instrumentelle Strategie gegen die Sorge von Ungleichheit ins Felde führt, muss man die Konsequenzen von Ungleichheit in allen wesentlichen sozialen Dimensionen abbilden. Dann wird es schon wesentlich schwieriger, mit dem Achselzucken.
Eine weitere ethische Strategie ist jedoch, Gleichheit auch einen intrinsischen Wert an sich zukommen zu lassen und damit neben anderen Werten wie Prosperität gleichberechtigt zu stellen. Dafür kann es viele guten Gründe geben. Menschen zeigen häufig eine außerordentlich starke Aversion gegen Ungleichheit, und nicht weil sie über deren Konsequenzen besorgt sind, sondern weil sie Gleichheit als Zustand an sich schätzen. Es gibt also eine deontische Strategie zur Verteidigung der Ungleichheit, die von Ökonomen regelmäßig gering geschätzt wird, bzw. als Sozialneid abgetan wird. Das ist umso merkwürdiger, weil Ökonomen gleichzeitig die menschliche Gier im Sinne der kapitalistischen Innovation instrumentalisieren wollen. Wenn aber eine schlechte Charaktereigenschaft positive Effizienzwirkung entfalten kann, warum soll dann nicht der Sozialneid positive Reaktionen im Sinne der Entwicklung von Sozialstaatlichkeit befördern? Die Ökonomie misst hier immer noch mit zweierlei Maß, und das Übersehen dieser Tatsache erzeugt unter anderen Sozialwissenschaftlern und Verhaltensforschern denn auch regelmäßiges Kopfschütteln.
Es ist also inkonsequent, die entscheidende normative Frage abzutun, die da lautet: ab welchem Niveau wird Ungleichheit zum Problem an sich? Diese Frage kann nicht mit letzter wissenschaftlicher Autorität quantitativ geschätzt, sondern allerdings demokratisch ermittelt werden. Dennoch ist genau sie das normative Grundproblem von Piketty: Ab wann wird Ungleichheit zu einem solch gravierenden Problem, eine solch gravierende Verletzung der sozialer Solidarität, dass Intervention geboten ist, selbst wenn sie auf Kosten anderer Werte ginge? Piketty liefert darauf eine interessante, wenn auch nicht immer konsequente Antwort. Der Frage hat jedoch Piketty enormen Auftrieb verschafft.
Referenzen:
Cingano, F. (2014) ‘Trends in Income Inequality and Its Impact on Economic Growth”‘. OECD SEM Working Paper No. 163.
Cowen, T. (2014) ‘Capital Punishment. Why a Global Tax on Wealth Won’t End Inequality’. Foreign Affairs May/ June 2014.
Ellenberg, J. (2014) ‘And the summer’s most unread book is…’ Wall Street Journal July 3.
Giles, C. (2014) ‘Piketty’s Findings Undercut by Errors’. Financial Times March 23, 2014.
McCloskey, D. N. (2014) ‘Measured, unmeasured, mismeasured, and unjustified pessimism: a review essay of Thomas Piketty’s Capitalism in the twenty-first century’. Erasmus Journal for Philosophy and Economics 7(2): 73-115.
Mahler, V. A., & Jesuit, D. K. (2006) ‘Fiscal redistribution in the developed countries: new insights from the Luxembourg Income Study’. Socio-Economic Review 4(3): 483-511.
Matthews, D. (2015) ‘The worst argument against Thomas Piketty yet’. vox.com http://www.vox.com/2015/1/2/7482175/piketty-mankiw-founding-fathers(January, 7th, 2015).
Milanovic, B. (2013) ‘The return of “patrimonial capitalism”: review of Thomas Piketty’s Capital in the 21st century’. MPRA Paper No. 52384.
Zucman, G. (2013) ‘The Missing Wealth of Nations: Are Europe and the U.S. Net Debtors or Net Creditors?’ The Quarterly Journal of Economics 128(3): 1321-1364.